„Gebrauchsanleitung für einen vernachlässigten Sinn“ Es geht um Genetik, Evolution, Biodiversität, Chemie und Geschmack. Doch in allererster Linie geht es um Genuss.
Die Sinnlichkeit der Himbeere auf dem Cover täuscht darüber hinweg, was in diesem Buch steckt: Fakten, Fakten, Fakten.
Das ist einerseits natürlich gar nicht schlimm, denn an Informationen mangelt es heutzutage allenthalben. Dennoch wäre ein etwas größerer Happen Unterhaltsamkeit wahrscheinlich ratsam gewesen, denn die meisten Leser sind von einer wissenschaftlich fundierten und vermittelten Ansammlung von Fakten schnell überfordert.
Auch ich muss gestehen, dass ich manchmal nicht alles verstanden habe. Aber – es hat mich nicht gehindert weiter zu lesen und ich habe fest vor, meinen Wissenslücken zu schließen 😉 Ein erster Schritt ist die erneute Lektüre dieses Buches.
Aufbau des Buches
Die einzelnen Kapitel sind durchaus mit lockenden Titeln versehen:
- Brokkoli und Tonic
- Bier aus der Flasche
- Das Streben nach Schmerz
- Was Ihr Gehirn zum Wein meint
- Den Hunger stillen
- Warum nicht Iguana
- Die Killertomate
- Blumenkohl-Bloody-Mars und andere kulinarische „Highlights“
- Epilog: Die Zukunft des Geschmacks
Doch so plastisch die Titel, so wissenschaftlich fundiert die Informationen, die sich dahinter verstecken. Denn Geschmack ist sozusagen dreidimensional – es ist eine Kombination aus Geruch, Aussehen und Textur. Bob Holmes ergründet die einzelnen Komponenten in einigen Selbstversuchen und lockt den Leser, ihm nachzueifern.
Das vierseitige Sachregister hilft bei der Orientierung. Obwohl mir da doch einige Begriffe fehlen – aber das ist wahrscheinlich in jedem Buch so 😉
Roadtrip durch Nordamerika
Es ist spannend, was Bob Holmes auf seiner Reise zum Verständnis des Geschmacks erfährt. Er zieht von Experte zu Experte, von Labor zu Labor und Kongresse nimmt er nebenbei mit. Einige der von ihm anvisierten Fachleute möchten nicht in der Öffentlichkeit darüber reden, was (und warum und womit) sie Geschmack in die Dinge bringen.
Es ist nicht alles gänzlich neu, von den verschiedenen Bereichen der Zunge, unterschiedlichen Begabungen beim Verkosten oder dem Einfluß von Farbe auf die Geschmackswahrnehmung hat man schon gehört/gelesen. Mehr als 100 Wissenschaftler und Aromaforscher hat er schließlich gesprochen und damit alle bekannten Aspekte um den Geschmack in diesem Buch eingefangen.
Dies zeigt sich unter anderem in den 16 Seiten Anmerkungen/Quellen, die hervorragend zur weiteren Recherche einzelner Themenbereiche sind.
Künstlicher Geschmack
Ein Geheimnis der Geschmacks-Hersteller – weniger ist mehr.
Die Natur baut mit über 2500 verschiedenen Geschmacksstoffen einen Apfel. Doch wir lassen uns mit 26 Aromen aus dem Labor Apfelgeschmack vorgaukeln. Auch in anderen Bereichen sind wir mit weniger zufrieden – denkt an komprimierte Audiodateien in MP3 oder Bilder auf Bildschirmen, die man niemals so drucken könnte…
Bob Holmes wägt Vor- und Nachteile des künstlichen Geschmacks ab. Als Wissenschaftler ist eine Sache für ihn nicht gut oder schlecht. Sie ist immer beides. Es kommt auf den Einsatz an.
Mit Hilfe des künstlichen Geschmacks werden nicht nur Produkte günstiger produziert, natürliche Aromen ersetzt und Menschen zum Kauf verführt. Die Erhöhung des Genusses und der Gewinn von Lebensqualität ist ebenfalls möglich und wird durchaus genutzt.
Biodiversität
Mein Lieblingsthema ist die Tomate. Bob Holmes zeigt auf, wie und vor allem warum unsere Tomaten geschmacklose Wasserbomben sind. Die Züchtung hat auf Ertrag und Haltbarkeit gesetzt. Geschmack war kein Thema. Eine moderne Tomatensorte hat im Vergleich zu 1970 einen um 300 Prozent höheren Ertrag. Da können die verbliebenen Blätter mit ihrer Zuckerproduktion und den flüchtigen Stoffen, die für das tomatige zuständig sind, nicht mithalten.
Inzwischen befassen sich Forscher mit der Rückgewinnung des Tomantengeschmacks, durch Kreuzungen mit alten Sorten 🙂
Die Bedeutung der flüchtigen Aromen hat mich begeistert. Das diejenigen, die unter der menschlichen Wahrnehmungsschwelle liegen im Verbund unser Hirn auf sich aufmerksam machen zeigt, dass es auch hier zu einem Umdenken kommen muss. Nur weil wir etwas nicht wahrnehmen, ist es doch wichtig für uns.
Lieblingszitat
„Es geht nicht um richtig oder falsch, so viel ist klar. Wichtig ist, dass die Beschreibung des Sinneseindrucks mich dazu zwingt, aufmerksam zu sein, denn diese Aufmerksamkeit bereichert mein Geschmackserlebnis.“ Bob Holmes, Geschmack
Bob Holmes
Er ist Slow Food Mitglied, Evolutionsbiologe, wissenschaftlicher Journalist und passionierter Hobbykoch (daher schleichen sich auch einige Rezepte im Buch ein). Seine Leidenschaft für Essen, Genuss und Geschmack ist deutlich spürbar. Es ist bewundernswert, mit welcher Akribie Bob Holmes dieses Buch recherchiert und geschrieben hat. Er hat sich zahlreichen Experimenten gestellt und dabei viel er- bzw. überlebt.
Wie die Verkostung von Jalapeno, thailändische Vogelaugen-Chili und Habanero trotz besseren Wissens oder die Zubereitung von „Schottischen Steckrübenklopsen“ nach dem Vorschlag von Chefkoch Watson für seine Familie. Diese skurrile Mischung aus Kalbfleischbällchen in einer Soße aus Chilipulver, Garam Masala, Steckrübe, Avocado und Muschelsaft scheint aber zu schmecken… ich werde sie dennoch nicht nachkochen.
Geschmack
Dieses Buch überzeugt durch Inhalt. Das sollte bei einem Sachbuch eigentlich immer sein, ist es allerdings nicht. Mich beeindruckt die Hartnäckigkeit, mit der Bob Holmes immer tiefer ins Thema eintaucht und dem Leser einen wirklichen Mehrwert bietet. Dabei gelingt es ihm Wissen unterhaltsam zu vermitteln. Nicht immer, aber sehr oft.
Jeder, der Essen und Trinken liebt, sollte sich mit den Hintergründen des Geschmacks auseinandersetzen und dieses Buch lesen 😉
Um es mit den Worten von Bob Holmes zu sagen:
„Da draußen wartet ein ganzes Universum des Geschmacks, und es ist an uns, es zu entdecken.“
Riemann Verlag, 2016
Geschmack
Bob Holmes
aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Ursula Held
Lektorat: Werner Wahls, Umschlaggestaltung: Stephan Hering, Berlin Foto: iStockphoto/knape
ISBN 978-3-570-50190-0
Ich danke dem Verlag für die Zusendung eines kostenlosen Rezensionsexemplars.
Wer wissen will, wie ich rezensiere – hier habe ich es erklärt.
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